
Old Veins, New Tunnels: Fluchttunnel aus der Endzeitrhetorik
Endzeitliche Krisenstimmung ist traditionell gut eingeübt im hauptstädtischen Kulturbetrieb – auch ganz ohne den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Wenn man sich die Presseaussendungen der HKWs, SAVVYs und Berlin Biennalen genauer ansieht, könnte man meinen, Apokalyptik und Förderwürdigkeit gingen fast zu gut zusammen. Hauptsache „urgent!“ Das Ende ist nahe.
In der Gruppenausstellung „Old Veins, New Tunnels“ in der Schöneberger Galerie Heidi stehen die Zeichen ebenfalls auf Krise, Tod und Verfall, aber auch auf den merkwürdigen Reiz, den das auf uns hat. Passenderweise beschränkt sich der Pressetext auf ein Zitat des Fin de Siècle-Autors Edward Gordon Craig, der den Tod zu „a kind of spring“ verklärt. Passend auch die Referenz an den New Romantic-Kracher „Fade to Grey“, der als lauter Electro-Loop durch den Raum dröhnt. Und sogar der passt. Es ist ein heruntergekommener, ehemaliger Möbelladen an der Ecke Kurfürsten- und Potsdamer Straße, wo Straßenstrich und Gentrifizierung einander immer ungenierter auf die Pelle rücken. Dort hat Pauline Seguin vor eineinhalb Jahren ihre Galerie eröffnet: aufregendster Neuzugang im auch prä-pandemisch schon bräsigen Berliner Galeriebetrieb.
Wer hinter „Old Veins, New Tunnels“ Gesellschaftskritik wittert, wird aber enttäuscht: Es geht sichtlich um die Kunst selbst und um denjenigen Teil des Kunstbetriebs, der von ihrem Verkauf überleben will. Da gibt es An- und Totgesagtes, wie die neo-naiven bad paintings von Gräbern, die Leidy Churchman (Jg. 1979) vor gut zehn Jahren schon einmal, damals in der 2017 geschlossenen Galerie Silberkuppe gezeigt hat; ein als PC-Interaktions-Game aufgemachtes teenage angst-Dramolett von Adam Martin (Jg. 1989), der im Sommer letzten Jahres in der Kölner Galerie Daniel Buchholz debütierte; oder die zeit- und genretypisch ekstatischen Tuschzeichnungen von Körper-Kontorsionen der polnischen Malerin und Grafikerin Alicja Wahl (1932-2020). Sie hatte bisher niemand so recht auf dem Schirm – nicht ganz ohne Grund.
Nicht auf dem Schirm war allzu lange auch Alina Szapocznikow (1926-1973), um deren Werk sich Ende der Nullerjahre die Berliner Galeristin Isabella Czarnowska verdient gemacht hatte, wenngleich nicht mit ganz so viel Erfolg wie der Galeriekonzern Hauser & Wirth, der den Nachlass seit 2019 betreut: tatsächlich a kind of spring für dieses feministisch-körperbezogene Werk. Hat es deshalb nur eine einzige der in vielen Variationen erprobten „Lippen“-Skulpturen Szapocznikows zu Heidi geschafft?
Der Schau die Schau stiehlt eh Veit Laurenz Kurz (Jg. 1985) mit seiner „Circle of the Bee“-Installation. Es ist ein aus Sand, Steinen und Pflänzchen errichteter Bannkreis, in dem sich grauslich zurechtgemachte, von Bienenstichen, Wucherungen und Wunden befallene Schaufensterpuppen zum post-apokalyptischen Kleinfamilienglück finden.
Wo sich Endzeitrhetorik längst als akademisch-kulturbetrieblich sichere Nummer etabliert hat, spricht allerdings viel für die künstlerische Behauptung der sklerotischen Form als Fluchttunnel einer Kunst, die zwischen Pandemie und Protest, Prekarisierung und Pinault tatsächlich nicht mehr so recht weiß, was sie mit sich anfangen soll.
21.01 - 25.02.2023
Heidi
10785 Berlin, Kurfürstenstraße 145
Email: info@heidigallery.com
https://www.heidigallery.com
Öffnungszeiten: Do-Sa 11-18 h